Perseus & Androméda

op. 78, 2019

I. Das Tor
II. Die andere Seite
III. Tanz des Schicksals
IV. Transformation

Für Orchester
Dauer: 23 min

Besetzung: 3,3,3,3-6,4,3,1, Timpani, Schlagzeug (5), Harfe, Klavier, Orgel, Streicher

Kompositionsauftrag für die Staatsphilharmonie Nürnberg
Uraufführung: 13. Juli 2019, Meistersingerhalle Nürnberg.
Orchester: Staatsphilharmonie Nürnberg,
Dirigentin: Joana Mallwitz
Live-Aufnahme des Bayerischen Rundfunks

 

Werknotiz

Mythen spielen in der griechischen Antike eine sehr wichtige Rolle. Die Mythen und ihre Wahrheiten bleiben in unseren Tagen immer noch aktuell und ihre Inhalte reizen und inspirieren viele Schriftsteller, Philosophen, bildende Künstler und Komponisten. Viele Fragen, die sich die Menschen in der Antike gestellt haben, bleiben auch in unserer Zeit unbeantwortet.

Als Joana Mallwitz mich fragte, ob ich mir für das Konzert mit der Aufführung des „War Requiem“ von Benjamin Britten vorstellen könnte, eine neue Komposition zu schreiben, hat mich das Thema „Schicksal“ gleich stark angesprochen. Die Tatsache, dass ein Requiem für die Opfer des Zweiten Weltkriegs komponiert wurde, führte mich zu der Frage, weshalb die Menschheit immer noch Kriege führt. Gehören die Kriege zu unserem Schicksal? Sind sie vermeidbar? Können wir durch eigene Entscheidungen und aktives Handeln unsere Leben und das der Menschen unserer Umgebung verändern, statt dem „Schicksal“ ausgeliefert zu sein? Können wir politische und soziale Situationen verändern? Bestimmen wir unser Schicksal selbst oder ist alles schon vorprogrammiert?

Es gibt in der Mythologie die drei Schicksalsgöttinnen (Moiren) Átropos, Láchesis und Klothó, die über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft der Menschen entscheiden. Wenn die Schicksalsgöttinnen durch Zeus über das Schicksal von Androméda entschieden hatten, gehen Perseus und Androméda durch ihr Handeln über dieses Schicksal hinaus? Androméda war zum Tod verurteilt, wird aber durch Perseus gerettet, sie wird befreit und lebt mit ihm lange in Liebe weiter. Geht es vielleicht insgesamt um die Erfahrung einer Entscheidung und die Aktivierung der dafür notwendigen Kräfte in uns selbst, damit wir die eigenen Taten bewusster verantworten?

Perseus und Androméda finden trotz dramatischer Voraussetzungen zueinander. Hat Perseus durch seine Tat das Schicksal überwunden oder war es das Schicksal, das ihn zu ihr gebracht hat? Die Antwort zur Frage des Schicksals in meiner Komposition ist die Transformation. Dass wir verantwortlich sind für unser Schicksal, indem wir uns für jede Frage des eigenen Lebens bewusst selbst entscheiden, wahrnehmen und uns selbst und das „Schicksal“ dabei verändern.

Durch das Komponieren das Thema des Schicksals zu reflektieren und durch Musik Antworten zu suchen, übte auf mich eine große Anziehungskraft aus und inspirierte mich, dieses Stück zu schreiben. Die vier Sätze der Komposition, die ohne Pause nacheinander gespielt werden, stehen unter dem dramaturgischen Bogen einer Erzählung. Wie durch einen neuen Blickwinkel wird die Wahrnehmung verändert, um dadurch etwas Neues in uns zu empfinden und zu erfahren.

Der erste Satz „Das Tor“ beginnt mit ruhigen Klängen, die durch Wiederholung bestimmter musikalischer Passagen einen rituellen Charakter erzeugen. Als Prolog steht er unmittelbar vor dem kräftigen Hauptthema, das im ganzen Stück in verschiedenen Modifikationen vorkommt. Der zweite Satz „Die andere Seite“ bietet einen ruhigen Klangraum, der die musikalische Brücke zwischen dem ersten und dritten Satz bildet und ein klangvoll-sehnsüchtiges Hinübergehen andeutet. Im dritten Satz „Tanz des Schicksals“ werden intensive rhythmische Schlagzeug-Passagen und Melodiethemen immer wieder von sehr kräftigen Akkorden unterbrochen. In diesem Tanz versteckt sich auch der Kampf zwischen der eigenen Entscheidung und den Gegebenheiten des Schicksals. Die machtvollen Akkorde sind nicht stark genug, um die Existenz der Melodie und des Rhythmus zu zerstören. Im vierten Satz „Transformation“ wird eine beruhigende musikalische Stimmung wie in einem Ritual erzeugt und für den Zuhörer ein innerer Raum zum Empfinden und zum Nachdenken entfaltet.

Das Orchester wird sehr oft als ein „Gesamtinstrument“ eingesetzt, das mehrere Klangfarben erzeugt. Eine wichtige Rolle spielt das Schlagzeug in Zusammenhang mit Klavier, Harfe und Orgel, die gemeinsam eine besondere klangliche und dramaturgische Aufgabe erfüllen. Ansonsten wird das Orchester weitgehend in gewohnter Spielweise eingesetzt, jedoch werden von einzelnen Instrumenten durch besondere Spieltechniken ungewöhnliche Klänge erzeugt, die dem gesamten Klangeindruck und der Dramaturgie dienen.
Der Auftritt des Orchesters im Saal ist ungewöhnlich, da die Musiker schon hinter der Bühne beginnen zu spielen, um dann im Gehen weiterspielend zu ihren Positionen auf der Bühne zu kommen. Ich möchte dadurch zeigen, wie es sich für die Musiker und für das Publikum anfühlt, wenn wir den konditionierten Auftritt des Orchesters und des Dirigenten anders gestalten. Wird dadurch eine andere Konzertsituation erzeugt? Wird damit der Raum mit seiner Geschichte, seinem Schicksal ebenfalls verändert? Können wir überhaupt Räume mit Musik verändern? Obwohl der Saal aus vermeintlich unveränderlicher Materie besteht, wird er uns durch den ungewöhnlichen Auftritt der Musiker ein anderes Gesicht zeigen – oder wir erfahren uns selbst anders, in dem wir den Raum neu erfahren – oder beides zusammen?
Nach dem ungewöhnlichen Auftritt des Orchesters wird die Komposition weiter in der gewöhnlichen Orchester-Position aufgeführt. Es geht mir hauptsächlich darum, mit dem Anfang ein erklingendes Erfahrungs-Tor für die weitere Aufführung zu öffnen.

Foto: Norbert Banik

 

Hörbeispiel

 

Partitur