Ypsilon, A Poem for Trumpet and Orchestra in Five Scenes
op. 83, 2020
Für Trompete und Orchester
Dauer: 35 min.
Besetzung: 2.2.2.2. – 4.2.3.1., Timpani, Schlagzeug (4), Harfe, Klavier, Streicher
Auftragswerk des Grafenegg Festivals
Uraufführung: 14. August 2020, Wolkenturm, Grafenegg Festival
Orchester: Tonkünstler Orchester
Solist: Simon Höfele
Dirigentin: Konstantia Gourzi
Live-Radio und Fernsehen Aufnahme, ORF
Werknotiz
Der Titel «Ypsilon» ist vom griechischen Buchstaben Y inspiriert, der mehrere Bedeutungen hat. Die zunächst auffälligste ist der Buchstabe selbst, der auch wie ein Mensch mit nach oben gestreckten Armen gesehen werden kann. Die Übersetzung des Wortes «Ypsilon» aus dem Griechischen heißt „das Hohe“, aber auch gleichzeitig „das Hohe anschauen“.
Das Symbol Y hat auf mich eine starke Wirkung und ist eine Erinnerung, die höhere Dimension zu ehren und gleichzeitig ihre Verbindung zur Erde und zu uns selbst zu spüren. Diese Energie hat mich für die Komposition Ypsilon, A Poem for Trumpet and Orchestra in Five Scenes inspiriert und die Musik erzählt davon.
Als ich 2019 angefangen habe, die Skizzen des Stückes zu notieren und gleich danach die ersten Töne komponierte, hatte ich für den Ablauf der Komposition ein anderes Konzept geplant, als es dann geworden ist. Ich war im Kompositionsprozess schon mittendrin, als die Corona-Pandemie angefangen hat, als die Lock-Downs der Coronaphase und die weiteren Einschränkungen uns gezwungen haben, uns anders als bis dahin zu verhalten. Ich merkte, wie meine Ideen und Gedanken sich veränderten und mich in eine andere Richtung führten, als ich es geplant hatte. Grundlegende Fragen des Lebens und der Musik tauchten immer wieder auf und ich suchte dringend in mir nach neuen Antworten für die eigene Existenz und die Kunst. Eine noch stärkere Sehnsucht als sonst nach Melodie, Rhythmus, Klängen und ihrer Schlichtheit hat mich intensiv begleitet. Die verschiedenen Stimmungen, eine neue Musikdramaturgie, das kammermusikalische Spielen im Orchester, die Stille und die widersprüchlichen Klänge suchten in mir dringend eine Vereinigung.
Ein Gedicht aus Tönen, über die Koexistenz verschiedener Klänge, Musikrichtungen und über die Erinnerung, dass alles Eins ist und gemeinsam existieren kann, ist dadurch entstanden. So wurde die Dramaturgie des musikalischen Gedichts mit den fünf Szenen von Ypsilon entfaltet.
In Ypsilon ist das Soloinstrument der Träger verschiedener Aussagen, die sich durch das ganze Stück mit jeweils anderen musikalischen Elementen bemerkbar machen – in dem sie sich manchmal schleichend, manchmal führend, manchmal schmeichelnd und manchmal explosiv äußern. Das Orchester agiert, reagiert, kommentiert, regt an und geht dadurch immer wieder eine neue Klangvereinigung mit dem Solisten ein. Die Komposition fließt zwischen den Szenen mit kurzen Spannungspausen und erklingt, als ob das klangliche Geschehen von Y wie eine Geschichte unter einem gemeinsamen Bogen erzählt wird.
Ypsilon, A Poem for Trumpet and Orchestra in Five Scenes beginnt mit einem Solo in der Trompete – wie eine Kadenz, wie ein Signal. Das Orchester singt und spielt in einer ruhigen, aber intensiven Stimmung und beide zusammen bewegen sich zwischen Aufruf, Wiegenliedern und Blues. Eine kurze improvisierende Stimmung nach angegebenen Elementen durch die ersten Schlagzeuger prägt danach eine der ruhigen Passagen.
Die zweite Szene erklingt wie ein intensiver Dialog zwischen den explosiven rhythmischen Elementen des Orchesters und den Kadenzen des Solisten, die als Speech (Vortrag) zwischen den Orchester-Gruppen bezeichnet werden. Rhythmische Elemente, die in unterschiedlichen Gruppen verteilt werden, kehren wieder und jedes Mal erklingen sie intensiver als beim vorhergehenden Mal.
Die dritte Szene baut mehr und mehr eine atmosphärische Stimmung auf und dient als intensiver Nachklang der zweiten Szene und gleichzeitig auch als eine Klangbrücke zur nächsten Szene. Hier treten die Gruppen des Orchesters auch solistisch auf, in dem sie auf den gesamten Klang, der entsteht, kammermusikalisch mit vorgegebenen Elementen reagieren und sie auch selbst gestalten. Damit wird die Stimmung der Komposition beeinflusst und dadurch wird in jeder Aufführung eine individuelle, neue Klangkombination und Spannung erzeugt. Die Rolle des Dirigenten in dieser Szene ist es, die gesamte Stimmung auszugleichen und die Auftritte der verschiedenen Gruppen und deren wieder Verstummen zu koordinieren.
In der vierten Szene treten neue stark melodisch-rhythmische Elemente auf und kreieren einen charakteristischen, betonten Tanz, der durch die häufigen Taktwechsel an einen leicht jazzigen Charakter erinnert. Die Solostimme agiert und reagiert explosiv und entscheidet zum Teil frei über die dramaturgische Gestaltung, über den Ablauf der Phrasen und über die Kombination und Wiederholung der vorgegebenen Patterns.
Die fünfte Szene hat den Abschluss-Charakter eines gesamten Nachklangs, einer Transformation: ein erneutes Signal, welches sich von jenem zu Beginn des Werks unterscheidet, vereinigt sich mit dem Orchester. Es entsteht ein abschließender, schlichter, kurzer Dialog zwischen Perkussionisten und der Solistin/dem Solisten, wie eine Frage und Antwort. In dieser Szene ist es gewünscht, dass das Publikum auch eine singende Rolle übernimmt, die der Dirigent dem Publikum anzeigt und es führt. Ob diese Aktion möglich und passend ist, wird jeweils vom Dirigenten entschieden. Die singende Aktion für das Publikum erschien mir in dieser Komposition als notwendig, denn die Bühne und das Publikum vereinigen sich, um etwas Gemeinsames zu erleben. Das Singen dauert nur kurz, aber die emotionale und vereinende Erfahrung kann sehr lange Zeit bleiben.
Die immer wiederkehrende Haltung der selbst gestaltenten Solostimme – auch in diesem Teil – hängt von der Solistin/dem Solisten ab, wie sie sie realisieren. Der Dialog zwischen Solo und Orchester soll auch dadurch von Anfang bis zum Ende lebendig bleiben.
Das Stück schließt mit einer stimmungsvollen, unerwarteten klanglichen Offenheit, um Raum zum Nachklang, zum Nachdenken und Nachempfinden zu geben.